Weder Konzert noch Gottesdienst, sondern „A theatre piece“ sei dieses Werk für Sänger, Tänzer und Musiker von einem tiefen Humanismus und dem Wunsch nach Frieden und Veränderung durchdrungen, so schrieb das MiR zu Bernsteins Werk, das immer wieder vor allem wegen seiner irreführenden Bezeichnung polarisiert.
Angelehnt an eine römisch-katholische Messe würde man das Werk wohl besser eine politisch aufgeladene Abrechnung mit „Fake Life und Fake News“ -wie wir heute sagen würden- nennen. Dies stand bereits von Jahrzehnten im amerikanischen Establishment hoch im Kurs, bevor es durch die Realität Lügen gestraft wurden. Die Gesellschaft befand sich im Umbruch. Kennedys Tod, die Ermordung Martin Luther Kings, der grausame Krieg in Vietnam (prägend für diese Zeit in den USA), der zynische Rassismus Nixons und der Watergate-Skandal hatten Bernstein zutiefst verunsichert und zum Polit-Anti-Establishment dieser Gesellschaft getrieben. „2018 bedeute die universelle Friedensbotschaft des Stücks von 1971 mehr denn je“, so das Theater.
Im Zentrum des Geschehens steht der Zelebrant, der die „Messe“ vollzieht. In dieser Rolle besticht Henrik Wager ein weiteres Mal in Gelsenkirchen. Wie sein Bariton die Forti gewaltig und die pianissimo Höhen durch Falsettieren eindringlich rüberbringt, macht ihn glaubwürdig zwischen der Figur eines Predigers (Verkünders) und in seiner inneren Verzweiflung. Liturgie als Sinnbild einer gesellschaftlichen Krise: Immer stärker werden von der Versammlung Sinn und Inhalt des Rituals hinterfragt, Erfahrungen, Zweifel, Widersprüche dagegengesetzt und brennende Fragen gestellt. Immer stärker ist der Zelebrant als Handelnder herausgefordert, (s)eine Entscheidung zu treffen. Und letztlich zerbrechen seine Gloriole und auch er selber.
Der Ton von Marco Brinkmann spielt beim akustischen Hochgenuss des Abends eine große Rolle. Selten ausgewogen erklingen die Passagen der Instrumentalisten der Neuen Philharmonie Westfalen, der verschiedenen Band-Gruppierungen und der rasch wechselnden Chöre und Soli zwischen Naturtönen und elektronischem Sound. Die ganze Klangwucht gut organisiert zusammen zu halten, das schafft Rasmus Baumann, der eine Bernstein-Brandbreite von zart fließend bis hin zu exzessiv rhythmisch punktgenau abliefert. Wer einen breit gefächerten Bernstein-Abend von ausgezeichneter musikalischer Qualität erleben will, der ist im MiR als Schmelztiegel musikalischer Talente wie immer richtig.
Inszenierung, Choreographie und Kostüme von Richard Siegal lassen an handwerklichem Können keinen Zweifel. Emphatisch engagierte Protagonisten und Gruppenszenen können effektvoll glänzen. Das Bühnenbild aus riesigen Holzkonstruktionen mal als Versammlungsort für die Besucher einer Massenpredigt oder einer Messe mal als Spielstätten von draußen und drinnen, geben optische Hilfestellung, manches bleibt jedoch ohne Aussagekraft. Ebenso ergeht es den Könnern des Balletts, dessen Funktion eher zu einer choreographischen Veredelung des Happenings dient.
Wollte man MASS mit all den Themen, Nöten und Ängsten, die den Komponisten vor 50 Jahren bewegten, im Heute verifiziert wissen, in die Welt der von Fake News wieder einmal verdorbenen Politik, von ideologisch und religiös verbrämtem Populismus und Radikalismus, dann hätte es auf der Bühne bedurft, Klarheit zu geschaffen in den Fragen von Religionswerten der Zeit. So bleibt leider alles etwas eindimensional in einer Liturgie und im Zerbrechen des Zelebranten und der Antwort „Alles wird gut, wenn wir nur genügend beten – Lauda, Lauda, Laude“ verankert. Eine Chance, den hochaktuellen Bernstein-Stoff zu transponieren, gelingt in Gelsenkirchen nur in geringem Maße, oder ist auch nicht unbedingt gewollt. (Dieter Topp)
Weitere Informationen unter musiktheater-im-revier.de
Weitere Aufführungen: 11./14.10./ 02./04./10.11./ 09.12./ 13./20.01./ 16.2.
Fotos: Karl Forster (Henrik Wager "Celebrant", Ensemble, Ballett im Revier und Knabenchor)
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