Oh Jean Genet, wie hättest du dieses Stück geliebt!!!

zum Tod von Regisseur und Theaterchef Roman Viktyuk 17.11.2020

... meine unvergessliche Begegnung in der Republik Moldau (Dieter Topp)


(Auszug, 2010)
... es ist ein Geschenk, das Festivalchef Petru Vutcarau für seine Festivalbesucher und das der gefeierte Regisseur Roman Viktyuk im Gepäck mit sich führt. Mit Spannung wird im ausverkauften Opernhaus von Chisinau von über 1.200 Besuchern die wohl spektakulärste Produktion des Viktyuk Theaters aus Moskau erwartet

Jean Genet, "Die Zofen, Ungeheuer wie wir selber, wenn wir dieses oder jenes träumen", so der französische Poet, der für seine Schriften ins Gefängnis musste, zu seinem Werk von 1947.

Wie mag es wohl im Moskau der 80er Jahre zugegangen sein, als Roman Viktyuk seine Interpretation eines Rollenspiels von Unterdrückung und Fremdbestimmtheit, von Abhängigkeit, Liebe, Hass und Demütigung auf die Bühne stellte.

Im Sinne der Parallelität von Sein und Schein, Imaginärem und Realität ist der Regisseur Genets Postulat gefolgt, dass sämtliche Rollen von Männern gespielt werden sollten. „Zwar kann eine Schauspielerin in eine der Rollen schlüpfen, aber das Irreale wäre nicht ausreichend radikal, weil sie ja nicht zu spielen braucht, dass sie eine Frau ist, so sinngemäß der Autor, dem die gesamte Wucht dieser Viktyuk-Inszenierung Folge leistet.

Er verkleinert den Aspekt Genets, der immer einmal vom Gespenst des Mordes spricht, das er in der Gesellschaft auftauchen lässt, wenn er von Grenzgängern schreibt. Hier ist eher angestrebt, dass die „schöne Geste“ des Verbrechens den Mörder und den Mörderdichter zu öffentlichem Ruhm führt. Die moralische Ablehnung dieser Grenzüberschreitung durch die Mehrheitsgesellschaft ist für Genet der größte Lohn.


Nicht so für Viktyuk, seine "Zofen" sind 40 Jahre nach Erscheinen der Vorlage inszeniert und das sind bereits wieder 20 Jahre her. Wen wundert's, wenn der Regisseur eine eigene, opulente Version zur Diskussion stellt. Die Protagonisten mit allesamt männlich makellosem Erscheinungsbild, barfuß in Samuraj-Röcken, in Pantöffelchen und Federboa besetzten Negligee, in voluminösem Pelzoutfit, durch irreal maskenhafte geschminkte Gesichter, beleuchten höchst dramatisch die tiefsten Abgründe der weiblichen Seele.


Viktyuk gibt den Zofen die männliche Kraft in Bewegung, Solotanz, Pas-de- Deux und dem Falsett eines jeden Darstellers, dem die ihm innewohnende Stärke noch mehr Intensität als der Ausdruck einer weiblich schrillen Stimme gibt.

Es wird dem Zuschauer Angst und Bange, wenn die "Mannfrauen" miteinander zum Sound eines 80er Popbeat ringen, wobei in der aktuellen Version neuere Musikschemata angefügt sind. Dalidas androgynes Chanson "Je suis malade" fasst immer wieder zusammen, was hinter den nicht enden wollenden Worten Genets zu stecken scheint, denn Viktyuk hat jede Zeile, jedes Wort des Dichters gedeutet, sei es in einer Geste, Bewegung, Wort, Tanz oder der perfekten Inszenierung eines weiblichen Körpers durch einen Mann. Halt! Hier ist nicht von Travesti die Rede; hier spricht die Liebe zum Werk des Skandalpoeten aus jeder Schauspieler-Geste, jedem Ton und Lichtstrahl, die dieses Bühnenstück zu einem zeitlosen Gesamtkunstwerk haben werden lassen.


Ich erinnere mich an den alten Jean Marais, der seine ganze Liebe zu Jean Cocteau in einem Theaterauftritt zum Ausdruck brachte, als er auf einem Motorrad auf die Bühne brauste und allen die Situation mit nur einem Satz verständlich machte: " Ich bin Jean Cocteau!" Diese Nähe ist mir präsent, wenn ich zum Ende einer beinahe dreistündigen Performance den legendären Satz Genets aus dem Lautsprecher vernehme: "Ich konstatiere, dass sämtliche Rollen von Frauen gespielt werden müssen". Doch diesmal spricht Roman Viktyuk. 

Applaus und Standing Ovations dauern über 20 Minuten. Sie liegen wie ein befreiender Aufschrei über der Vorstellung, über dem Theater, über Chisinau zur Dokumentation dessen, was unausgesprochen über dem BITEI-Festival liegt.

Wir fallen uns in die Arme, Roman, Petru, ich und ganz viele andere Besucher. "Nur gemeinsam können wir die Welt ein wenig besser machen". In diesem Augenblick glauben wir fest an die Message von Festivalchef Vutcarau und an die Rolle des BITEI, der Theaterbiennale des Eugene Ionesco Theaters, Chisinau/Republik Moldau.


Back