(von Dieter Topp) Mit Extremen umzugehen haben die Rumänen hinlänglich Erfahrung und im Angesicht augenblicklicher politischer Gesamteuropa- und Weltlage stehen sie da nicht alleine. Ein internationales Treffen im Rahmen von Theater, Film, Literatur ist angebracht.
Das Theater soll seine Kraft dazu nutzen, Besucher und Akteure mit extremen gesellschaftlich-politischen Fragen zu konfrontieren: „Was geschieht, wenn die Regeln des menschlichen Miteinanders zerbrechen, die Balance zwischen Gut und Böse auf dem Kopf steht, Grenzen persönlicher Freiheit in Dysfunktion des Systems in extreme Verhaltensweisen Einzelner entgleiten? Wie können wir mit Extremen auf Bühne und Leinwand umgehen, mit Terror, Tod, Krieg, Selbstmord, Totalitarismus, Gewalt, Manipulation und Schrecken? Weitreichende Themen, die einen einerseits erschaudern lassen, jedoch gleichzeitig zum Überdenken um die Bedeutung dieser Balance von Toleranz und profunden menschlichen Werten auffordern,“ so Mihai Maniutiu (Generalmanager) und Stefana Pop-Curseu (künstlerische Leiterin des Nationaltheaters) im Vorwort zur umfangreichen Veranstaltung.
Und so strukturiert sich das Extreme weniger in voyeuristischen Aktionen als in einer Exploration gegensätzlicher Pole von kulturellen und künstlerischen Acts, hierzu eine Auswahl:
Uhrwerk Orange als Zeugnis rumänischer Politik- und Sozialstruktur
In der Regie von Razvan Muresan läuft eine zynische Farce über die Auflehnung gegen die bürgerliche Ordnung ab, eine Anklage gegen den Staatsapparat, der Außenseiter durch medizinische Manipulationen gleichschaltet und ein Plädoyer für die bedingungslose individuelle Freiheit. Skrupellose Politiker werden angeprangert ebenso wie Wissenschaftler, die inhumane Experimente durchführen. Das Extreme der Geschichte spiegelt hautnah rumänische Realität.
Alex, der Verlierer, von seinen Kumpanen verraten, von den Eltern verstoßen, von Ärzten als Versuchsobjekt missbraucht, von politischen Gegnern der Regierung instrumentalisiert, wird brillant interpretiert von Cristian Grosu. Allerdings artet die Spielwut nicht in Gewaltverherrlichung aus. Anthony Burgess, der Novelist und Stanley Kubrick, der Regisseur des gleichnamigen Kultfilms, treten dafür ein, dass jedem die Freiheit gegeben sein müsse, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Die mit kontrastierender Musik unterlegten Szenen bleiben Theaterspiel. Die Angst, nicht der Romanvorlage zu genügen, gibt diesem Spiel allerdings zu viel Längen und verliert auf diesem Weg an Schärfe und Prägnanz, trotzdem ein gewichtiger Auftakt zum Thema des Treffens.
George Tabori: Die Goldberg-Variationen über die Erschaffung der Welt mit der Erschaffung eines Theaterabends oder eine „Erschöpfung“ beim internationalen Treffen EXTREME ...
Ein wenig derb, etwas respektlos, sehr albern, ein kunterbuntes Durcheinander und kein perfekter Abend, den Regisseur Mihai Maniutiu mit dem Nationaltheater Iasi im Sinne des Autors abgeliefert hat: Mr. Jay (Calin Chirila) und Goldberg (Marcel Iures) ergänzen sich perfekt als Antipoden. Der eine kommt hektisch daher, ein grausamer Tyrann, was die krasse Textvorlage hergibt, Goldberg im Gegensatz dazu unterwürfig und passend, als Jesusersatz ans Kreuz genagelt zu werden.
Während sich die Welt rapide verschlechtert, stellt sich immer dringender die Frage: "Kennst du eine bessere?" Das Theater stellt sich als ein einziges Chaos heraus und Tabori, so gesehen, als Realist nach dem Herzen des Publikums. Mr. Jay klärt seine Leute auf. Sie sind Mitwirkende im Theater der Grausamkeit, "falls es euch entgangen ist." (...)
Nach dem etwas überzogenen Tabori „Mein Kampf“ (Regie Alexandru Dabija), der so sehr recht nach dem Geschmack der Rumänen geraten ist, zumindest was Bauerntheater und Musik angeht, hat sich nun Theaterchef Maniutiu an den Schriftsteller gewagt. In einem szenischen "Jesus Christ Superstar Umfeld" mit einem bombastischen Golgatha des Bühnenbildners Adrian Damian, darf hier von einem gelungenerem Unterfangen die Rede sein, auch wenn dann die Kreuzigung des Falschen, nämlich Goldbergs, wieder nahe am Abgrund steht: Bühne frei für die Show im opulenten Bühnenset Damians. Er ist es auch, der mit den beiden Lichtdesignern Lucian Moga und Cristian Simon, so wie der krachenden Musik von Mihai Dobre eine neue Zeit einläutet: „Could we start again, please, die Bibel vermischt mit Jesus Christ Superstar, jüdische Version, Tabori made in Romania.
„Playlist“ des Rumänen C.C. Buricea-Mlinarcic
In der Regie von Tudor Lucanu (mit den spielfreudigen Akteuren Emöke Kato, Ovidiu Crisan, Sanziana Tarta, Mihai-Florian Nitu, Adrian Cucu und Matei Rotaru) zeigt diese Geschichte eine rumänisch-ungarische Familie zwischen 1989 und 2008, dem „goldenen Zeitalter“ ohne Licht, Heizung und rationalisierter Verpflegung bis hin zu einer (eventuellen) Demokratie. Darin aalen sich rotzfrech die Ehemaligen, die die neue Weltordnung schaffen wollen. Diese rumänische Story über die Zeit der „Revolution“ und danach, beherrscht auch fast 30 Jahre später noch die Gesellschaft. Es soll das landesweite Syndrom aufgezeigt werden, an dem die Rumänen noch mehrere Generation zu arbeiten haben, damit es nicht dieselbe kontrolliert, so der Regisseur. Die Vorlage gibt allerdings nicht sehr viel her und so bleibt für den Besucher, sich diesem Extrem selber weiter anzunehmen.
Anders beim „Prozess“ in der Regie von Mihaela Panainte, einem von drei Romanfragmenten aus Kafkas Nachlass, in der eine groteske und scheinbar irreale Welt erlebt wird, in der Grundrechte verletzt werden: ein aktuelles Thema im Umfeld rumänischer Alltagspolitik von Korruption bis zum Versuch, Minderheiten zu eliminieren.
Die Regisseurin führte die Crew durch ihre ganz eigene kafkaeske Welt. Sie forderte für rumänisches Theater ungewohnte Bewegungsabläufe (zu denen sie die Choreografin Enikő Györgyjakab geholt hat) und einen adäquaten, sehr exakten Sprachduktus, der keine wie in Rumänien sonst so beliebten egozentrischen Interpretationen zulässt. Und es stimmt alles. Die Darsteller haben sich in diese neue Welt hineingespielt, die Regie verinnerlicht. Rhythmus, Timing und Sprache verschmelzen zu einer Einheit. Die Szenerie des Rumänien stämmigen Deutschen Helmut Stürmer beweist sich für eine Panainte-Inszenierung erneut als perfektes bühneninstallatorisches Pendant, das bereits vor drei Jahren in "Medio Monte" den Erfolg beschied. Die metallenem Strukturen unterstreichen optisch die künstlerische Tiefe der intellektuellen Welten beider Künstler, eine ideale Symbiose, aus der heraus Ionut Caras in der Rolle des Herrn K. (auch Adrian Cucu und Cristian Grosu) ein beeindruckendes Bühnenerlebnis erwachsen lassen. Der “panaintische” Kafka spricht jedoch aus jedem der Schauspieler in großer und noch so kleiner Rolle und alle tragen dazu bei, dass das Publikum gefangen und die Ensembleleistung nach 95 Minuten durch verdienten Applaus belohnt wird.
Zwei denkwürdige Begegnungen mit dem Schriftsteller Matéi Visniec auf Bühne und Leinwand.
"In der 'Tschechow-Maschinerie' lebt der russische Schriftsteller mit seinen Charakteren zusammen und befindet sich in Interaktion mit ihnen. Die Atmosphäre ist krankhaft, geisterhaft, was nicht verwundert, denn die Auswahl der Charaktere basiert auch auf ihren jeweiligen Krankh eiten (zum Beispiel TB)," so Daniela Silidian im Aurora-Magazin (01. 12. 2008). Für das Festival schildern junge Schauspieler des Nationaltheaters Cluj-Napoca (Alex Popa, Irina Sibef, Radu Dogaru, Nicole Burlacu, Cosmin Stanila, Regie Catalin Borcirnea) in Magischem Realismus eine derartige Situation aus den letzten Lebenstagen Tschechows, "eine philosophische Betrachtung des Schreibens, des Todes und sicherlich noch von vielem Anderen", wie Visniec es nennt.
Von Theater und Film ist Matéi Visniec (l.) sichtlich angetan.
Bei weitem noch mehr beeindruckt die Filmpremiere von "Zähne" des Regisseurs Rares Stoica das Publikum und Autor Visniec mit einer Mischung zwischen absurder, kriegsrealer Grausamkeit. Mit viel Poesie wird hier die Geschichte von zwei Soldaten erzählt, die den Toten auf dem Schlachtfeld ihre Goldzähne entreißen. Doch da liegt plötzlich einer, "tot müde, aber zu warm um tot zu sein", mit dem sie sich auseinandersetzen müssen. Auf der Kreuzung zwischen Leben und Tod überschreiten sie am Ende ihrer Geduld die Grenzen von Raum und Zeit, bringen sich und uns in eine andere Dimension von Menschlichkeit mit der Frage nach der jeweiligen Schuld, entwickeln auf sehr drastische Art und Weise einen der subtilen Gedanken des Schriftstellers.
Musikalisch verabschieden die Komponistin, Chanson-Schreiberin, Sängerin und Gitarristin Ada Milea und der Geiger Alexandru Balanescu Besucher und Gäste mit einem Abend vom heiteren oder tristen Einerlei, vom Aufstehen, Arbeiten, Schlafen und demselben täglichen Prozedere. Geige, Gitarre und zwei international bekannte Rumänen berichten musikalisch über das Paradies mit all seinen Problemen, der Liebe, den Träumen vom Gestern und dem Aufwachen im Heute, ein Paradies, das sich hier und heute, ganz nah bei einem jeden von uns befindet …
Buchvorstellungen, Lesungen und "Nächte des extremen Kurzfilms" und eine Movementshow (Organic Sound Twist - OST von und mit Andrea Gavriliu) erweitern die Palette der siebten Cluj-Tage zu einem aufwendigen rumänischen Showcase. Cluj stellt sich kulturell international auf und macht neugierig auf Kommendes.
(http://www.teatrulnationalcluj.ro/en/)