Respekt einfordern - Festivalfrühling in Apulien
Toleranz und Akzeptanz zeigen und leben
KFE bringt Bari-Festivalbeitrag als Beitrag italienisch-rumänischer Verständigung in Europa nach Arad
Apulien nimmt im italienischen Nord-Südgefälle eine besondere Stellung ein. Dem ökonomischen und damit auch sozio-kulturellen absteigenden Trend entgegenwirkend widersetzt sich die Region der allgemeinen Regel, auch und besonders in politischer Hinsicht. Die Bastion gegen die im allgemeinen von Rom und Berlusconi bestimmten Gefüge der Regionen Italiens wird seit 2006 vom Linkspolitiker Nichi Vendola regiert, einem Kommunisten, dem in diesem Mittelmeerstaat eine andere Bedeutung zufällt, als landläufig zu vermuten sein mag. Sich wohl und sicher fühlend, mit dem Unterton eines gewissen Regionalstolzes zum Ausdruck gebracht, stimmten bei den letzten Vorwahlen über 80% ihrem "Landesfürsten" zu, ein gesunder Ausgangspunkt für die im März anstehenden Neuwahlen. "Alles muss anders werden", proklamieren die politischen Gegner, doch dabei bedienen sie sich der Idee, mit welcher Vendola 2006 zum Landesoberhaupt gewählt wurde.
"Jeder ist anders und willkommen in seiner Unterschiedlichkeit", ein Aufruf zur wissentlichen Akzeptanz von Diversity, die der offen schwul lebende Politiker fordert und versucht umzusetzen. Als ein neuerliches Beispiel dafür mag der Kulturmarathon "Primavera dei Diritti" im Februar 2010 angeführt sein.
Dabei handelte es sich um ein politisch ausdrücklich gewolltes, gefördertes und von der Organisation für das Theaterwesen in Apulien durchgeführtes Großprojekt. Hier wurde im Rahmen eines multikulturellen und interdisziplinären Festivals zu den Themen Menschenrechte und Minderheiten im Fokus einer sich wandelnden Welt gearbeitet, an der notwendigen, gegenseitigen Anerkennung und dem Respekt zueinander.
Es fanden Vorlesungen und Diskussionsrunden von Vertretern unterschiedlicher Universitäten statt, zu denen Studenten und Besucher eingeladen waren. "Es lebe der Unterschied in Apulien". Diese Aktivitäten kosteten keinen Eintritt, ebenso die "Etnic Hours", in denen in Apulien ansässige ausländische Gruppen im Rahmen persönlicher Gespräche zu einem Drink oder einem Imbiss vorgestellt wurden. Nicht zu vergessen sei der ebenfalls kostenlos angebotenen Italienisch-Sprachkurs, den die Migranten mit einem Zertifikat verließen. Von Brasilien, Mauritius, Irak, Iran, Griechenland, Eritrea, Tunesien, Sudan, Philippinen bis hin zu China breitete sich die ethnische Infopalette aus, die zeigt, aus welchen Kulturräumen die italienischen Einwanderer kommen. Kulturelle Besonderheiten oder Belange im Bereich darstellenden und bildenden Kunst fanden zeitversetzt im "Kursaal-Theater" an der Strandpromenade statt, einem aufwendig renovierten voluminösen Jugendstil-Gebäude mit mehreren Theatersälen, Cafés und Treffpunkten.
Generell kosten die Bühnenspektakel fünf Euro, stark subventioniert, um möglichst zahlreichen Besuchern den Eintritt zu ermöglichen. Und das Programm, entwickelt von Guilia Dellisanti als künstlerische Leiterin und das Giancarlo Piccirillo koordiniert hatten, konnte sich sehen lassen. Stolz war auch Silvia Godelli, Ratsmitglied des Departments für Mittelmeerangelegenheiten, Region Apulien, die sicher mit Recht von sich behauptet, sie sei "keine typische Politikerin im italienischen Sinne", was der Landeskenner zu interpretieren weiß.
ricci/forte
Aus der Reihe des breitgefächerten zeitgenössischen Angebots von Video, Konzert, Begegnung und Show, die sich im interdisziplinären Raum mit Themen wie Religion, Homosexualität, Gewalt, Angst, Toleranz, Akzeptanz auseinandersetzen, sei eine der Hauptveranstaltungen näher beschrieben:
Pinter's Anatomy von ricci/forte, den wohl zurzeit bekanntesten und aufregendsten zeitgenössischen italienischen Theatermachern, deren Stücke mittlerweile im eigenen Land ständig ausverkauft sind. Ihre Art der Verwobenheit aktueller Texte und Inszenierung hat auch andere europäische Länder aufmerken lassen. In London gastieren ricci/forte im Mai.
Anschließend stimmten sie einer Vorstellung in Rumänien zum Arad Underground Festival zu. Eine Initiative des KulturForum Europa als positives Zeichen italienisch-rumänischer Freundschaft in Europa. (www.ricciforte.com)
Klaustrophobischer Raum-Gewalt-Polysemie-Sphäre-zeitliches Discontinuum
In Pinter's Anatomy würfeln ricci/forte ein intellektuelles Puzzles zerstörerischer Fragmente zueinander, wobei Mystik und Realität, Illusion und Wahrheit miteinander verschmelzen. Ihre Werke sind angesiedelt in einer nicht definierten Realität, fordern Bewusstsein und Unterbewusstsein heraus, in einer nebulösen Welt zwischen Tag und Traum, in der sich der Zuschauer nicht darüber im Klaren ist, ob sich Realität oder doch eher Fiktion darstellen. Zukunft, unterdrückte Sexualität, Gewalt und Zuneigung, Verlangen, Geborgenheit sind einige der Themen, womit das verwobene Kunst-Duo, Stefano Ricci und Gianni Forte, Schreiber und Regisseur, die Besucher ihrer Vorstellungen konfrontieren. Ihr Stücke laufen schnörkellos ab, knallhart, direkt und manchmal in solch rasantem Bühnentempo, dass der Zuschauer kaum zu folgen oder aufzunehmen im Stande ist.Erst später, wenn der erste Eindruck und bei manchem der Schreck verdaut sind, wird klar, dass es sich um zeitgenössische, eher noch aktuelle Bühnen-Poesie handelt, typisch ricci/forte, die unprätentiös über dem steht, was den Menschen heute scheinheilig als Dogma oktroyiert wird.
Ähnlich der Unklarheit und Undurchschaubarkeit in der Welt von Printers Theatertexten fügen ricci/forte in Architektur von "Pinter's Anatomy" fragmentarisch absurde Szenen zueinander, in denen die Protagonisten ihre Realität subjektiver Wahrheit ausleben, in der die Lüge zu Hause ist.
Pinter's Stilmittel werden verwendet, um dieses Spiel zu scannen, das die hauchdünnen Grenzen zwischenmenschlicher Beziehungen weglöscht. Mit letzterer wird der 25 Minuten lang stehende Zuschauer schrill, in buntesten Farben vor der unfreundlichen Neonkulisse zwischen Leichenschauhaus und Christbaum konfrontiert.
Dies geschieht in einer Abfolge, von der nicht unbedingt klar wird, welchem Motiv die Darsteller folgen. Denn die Ereignisse überschlagen sich auf der Bühne, so wie wir es von Clicks im Computer, Sekunden kurzen Schnittfolge in Filmen oder TV-Zappen kennen. Dabei wird unsere menschliche Durchtriebenheit vorgeführt, die sich - mit körperlichen und seelischen Verkrustungen - wie dickes Eis aufbaut, auf dem die Menschen ihre Loopings springen, ihre Pirouetten drehen und außen vorlassen, dass die Zeit bereits jegliche Festigkeit darunter hat schmelzen lassen. Der Prozess semiotischer Manipulation des Leidens bleibt offen, die Skelette dessen, was wir waren, werden ausgegraben und ans Licht befördert: A.A.A. wollen wir Kunstrasen, ruhig schon gebraucht, um endlich begraben zu sein.
Vor allem muss die hervorragende Darstellung in atemberaubendem Spieltempo von Marco Angelelilli, Pierre Lucat, Guiseppe Sartori, Anna Terio angemerkt werden. (foto: cedric lefebvre)
Bravo Bari
Apulien ist mehr als das uns bekannte und durch Alltagspolitik in den Medien vermittelte Italien. Dazu trugen die Berlin-Lüttich Produktion "Love Fire" der Yasmeen Godder Company,Circa Sozial, ein brasilianisch-italienisches Projekt, Mark Ravenhills Barth of a Nation in italienischer Produktion bei sowie die zahlreichen italienischen Koproduktionen mit spanischen, USA/palästinensischen, afrikanischen, iranischen, irakischen, französischen, israelischen und englischen Partnern. (www.primaveradeidiritti.it)
Die irakische Tanztruppe von Muhanal Rashemd interpretierte mit "Crying of my Mother" die sich entwickelnde, manifestierende und ausufernde Gewalt unter drei Personen. Durch die wadenlangen Kaftane hatte man das seltene Erleben der "Poesie des Fußes". In "Schlaflos" entwickelten sie einen erotischen Vergleich in europäischem Outfit, der beim Publikum ankam. In "Under" transformierte sich die Identität des Individuums vor dem Hintergrund der jeweiligen Änderung der Beziehung zueinander, eine spanisch-italienische Tanzproduktion.
Safak Uysal und Bedirhan Dehmen, zwei junge türkische Choreographen der jungen türkischen Tanzszene begeisterten das Publikum mit einer fulminanten Musik und Licht und der "Freundschaft zwischen zwei Männern" gerade so, als wäre das "Buch berühmter Freunde" von Orest - Pylades, Achilles - Patrokles, Herkules - Hylas, ja sogar Robin Hood - Little John bis hin zu Hamlet - Horatio ein Bestseller. Hier schien die Diversity durch das Festival greifbare Realität zu sein. Zu traurig, dass diese dem Alltag weichen musste.
Doch etwas bleibt, und dazu trug die Hauptstadt der Region Bari mit der Erstausgabe des Festivals "Primavera dei Diritti" einen gewichtigen Teil bei. Italien und anderen EU-Ländern sei zu wünschen, dass in Apulien weitere Veranstaltungen dieser Art und eine Folge von jährlichen Festivals folgen werden.
PPS (Foto: Lucia Puricelli)
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