146 KM zwischen unruhiger Normalität und Krieg

33. Theaterfestival im rumänischen Piatra Piatra Neamț




In der 33. Ausgabe des Theaterfestivals gelang dem Theater der Jugend ein weiteres Mal der Spagat zwischen Theater als Instrument kultureller und sozialer Bildung mit Bezug auf sozio-poltitische Aktualität und Unterhaltung für Jedermann auf angemessenem Level. (Beobachtungen von Dieter Topp)

Das überall und alles beherrschende Thema des grausamen und Menschen verachtenden russischen Überfalls auf die Ukraine und die damit verbundenen menschlichen Tragödien hatte natürlich auch vor europäischen und internationalen Theaterfestivals nicht halt gemacht, erst recht nicht in Rumänien.

„146 KM“ lautete dementsprechend der Titel des diesjährigen Festivals des Theater in Piatra Neamț, einer Stadt im Norden von Rumänien in der Westmoldau.

"146 Kilometer liegen zwischen dem Theater und dem Zollposten Siret an der Grenze zwischen Rumänien und der Ukraine.
146 KM trennen zwei Realitäten voneinander: die einer unruhigen Normalität und die eines Krieges, der von inakzeptablen Gewalttaten geprägt ist.  
Und gleich nebenan liegt die Republik Moldau, von der Angst der rumänischen Einwohner um eine illegale russische Übernahme dominiert.
146 KM können eine angenehme oder eine beunruhigende Distanz bedeuten, eine Nähe, die Angst oder Solidarität erzeugt. Letztlich hängt das Gefühl der Nähe davon ab, wie man sich geistig auf eine Situation einstellt, die außer Kontrolle geraten ist,“ so Gianina Cărbunariu, künstlerische Leiterin und verantwortlich für das Theaterfestival. 

Vom 5. bis 18. September präsentierte das Theaterfestival Piatra Neamț in seiner 33. Ausgabe Produktionen aus Rumänien, Ukraine, Republik Moldau, Estland, Lettland, Ungarn, Frankreich und Deutschland und empfing Gäste aus ganz Europa. Unterschiedliche künstlerische Visionen, deren gemeinsamer Nenner ein kritischer Geist und der Wunsch bildete, gemeinsam einen Sinn in einer Welt zu finden, die immer unverständlicher erscheint. „Wir möchten, dass dieser Moment ein Moment des Nachdenkens über den globalen Kontext ist, in dem wir uns bewegen, ein Moment des Dialogs zwischen Künstlern und dem lokalen Publikum, ein Moment der Debatte zwischen den Fachleuten der darstellenden Künste“, so Cărbunariu weiter.


Vom ersten Augenblick an offenbarte sich 146 KM als Blaupause für die Veranstaltungsreihe, im Gegensatz zu den zahlreichen anderen Festivals des Landes, die sich um sich selber bewegen.

Die Ausstellung "HERE. NOW To be framed" präsentierte die Werke junger Ukrainerinnen und Ukrainer, die unter der Leitung des Künstlers Ciprian Istrate im Rahmen eines Malcamps entstanden. Die Stadt beherbergt seit Kriegsbeginn als Anlauf- und Durchgangsstelle Kriegsflüchtlinge, zumeist Frauen und Kinder, die in der vermeintlich sicheren Westmoldau bleiben, weiter zu Angehörigen in andere europäische Länder ziehen oder deren extremer Wunsch sie zurückzieht, um im Heimatland Beistand zu leisten.

Skin Deep - Unsere Kinder
Szenische Lesung zweier Stücke von Natalia Blok, einer international bekannten Dramatikerin, Drehbuchautorin und Regisseurin und eine der stärksten Stimmen der zeitgenössischen ukrainischen Kultur.
Beide Theaterstücke von Natalia Blok zeichneten eindringlich Zustände, Haltungen und Handlungen einer weiblichen Figur, die, vor allem in der Rolle der Mutter gefangen, gemeinsam mit ihren Kindern versuchte, die Traumata des Krieges zu überwinden. In Skin Deep entwickelte sich der Krieg zu einem Virus, der den Alltag und den Körper gleichermaßen befallen hatte und frug nach der Lösung, um eine solche Pandemie zu heilen.
Natalia Bloks Arbeiten wurden ins Polnische, Georgische, Deutsche und Russische übersetzt. Sie ist Gründerin des Dramatiktheaters in Kiew und mehrfache Gewinnerin des Pitching-Wettbewerbs der staatlichen Filmagentur der Ukraine.

Wie das Kriegsgeschehen Bewohner in der Republik Moldau noch emotionaler involviert - deshalb möchte ich bewusst den Ausdruck pathetisch bewusst vermeiden - zeigte das Theater "Alexei Mateevici" aus Chișinău, mit „Nennen wir sie beim Namen“ in der Regie von Luminița Țâcu.

Diese von Empathie geprägte Produktion dokumentierte die Solidarität mit dem ukrainischen Volk und seinen Künstlern, ein Manifest gegen den Krieg, eine Einladung, über die Tragödie unseres Nachbarvolkes nachzudenken und mit der zeitgenössischen ukrainischen Dramaturgie in Kontakt zu treten.
Sechs Monologe zeugten von einem Volk, das mit einer der größten Herausforderungen seiner Geschichte, ja der ganzen Welt, konfrontiert ist. "Am 24. Februar 2022 hat ein Nachbarland uns alle getötet. Wir sind nicht mehr die, die wir waren. Wir sind gestorben.“

HAU Hebbel am Ufer, Berlin und teatru-spălătorie, Chișinău, "Sinfonie des Fortschritts"
Eine zweite Performance aus der Rep. Moldau von Nicoleta Esinencu, Artiom Zavadovsky, Doriana Talmazan, Kira Semionov, Nora Dorogan und Oana Cirpanu zeigte die negativen Formen voranschreitender Kontrolltechnologien über Saison- und Wanderarbeiter im Westen. Diese soziale Problematik ist seit vielen Jahren bekannt, und das Kollektiv spălătorie versuchte, in einer neuen theatralischen Form wieder auf diese Tatsachen aufmerksam zu machen, erstmals durch Handwerkerequipment computergesteuert umgesetzt in Klänge, Geräusche und Licht.
In dieser Symphonie des Fortschritts gab es in der wichtigen Dramaturgie von Licht und Ton noch viel Luft nach oben, um dem Inhalt des Stücks eine angemessene Form zu geben.

Was geschieht mit ukrainischen Künstlern und ihrer Kunst in Zeiten des Krieges?
"Wir können dem Krieg in der Ukraine auf keinen Fall gleichgültig gegenüberstehen, und als kultureller Raum können wir unsere Position nur durch Kunst bekräftigen und stärken. Gemeinsam mit den drei Gastkuratoren haben wir beschlossen,

(Here.Now) den Moment in ein Manifest zu verwandeln, das unter Beteiligung von sechs ukrainischen Künstlern entstanden ist. Der Kontext des (Here.Now)-Moments hebt die Bedeutung des Ausstellens, der nach ästhetischen Kriterien aufgebauten Ausstellung, auf und setzt die Notwendigkeit des Dialogs, der Kommunikation und der Übermittlung einer gemeinsamen Botschaft der künstlerischen Gemeinschaft voraus." (Suzana Dan, Leiterin von Rezidența9, die das Projekt produzierte)

Einige der Gastkünstler sind noch in der Ukraine: Die Regisseurin Tanya Shelepko und der Musiker Oleksii Afanasiev gehören zu einem zeitgenössischen Theaterteam, das seine Tätigkeit während des Krieges fortgesetzt hat und in einem Kiewer Keller probt.

Mich selber dekolonisieren
"Die derzeitige heiße Phase des russisch-ukrainischen Krieges, die am 24. Februar 2022 um 4 Uhr morgens begann, markiert eine neue Etappe der Dekolonisierung, insbesondere auf persönlicher Ebene. 

Ich bin in Moskau geboren und habe dort fünf Jahre lang gelebt, bis mein Vater von bezahlten Attentätern ermordet wurde. Weder die Mörder noch die Auftraggeber des Mordes wurden jemals gefunden. Ein Teil meiner Familie verschwand im Gulag. Niemand ist dafür bestraft worden. Ich kenne nicht einmal die Namen meiner Verwandten. Aber ich will die Namen der Täter wissen. Für mich ist der Prozess der inneren Dekolonisierung genauso wichtig wie die Hoffnung, dass die Ukraine den Krieg gewinnt ... Meine Performance ist eine unbequeme öffentliche Reflexion über die Begriffe privat, öffentlich, persönlich, politisch", Artur Sumarokov (Ukraine), ein Künstler, aus dem der tiefe Schmerz mit jedem Wort und jeder Geste zu Tage trat.

Briefe von der Front
brachten ein weiteres Mal die Gräuel des Kriegs in der Ukraine an ein internationales Publikum. Schauspielerin und Regisseurin Julia Aug hatte Korrespondenzen mit Freunden sowohl aus der Ukraine als auch aus Russland gesammelt und dramaturgisch in einem Doku-Theater als lebendige Chronik des aktuellen Zustands in den Kriegsgebieten umgesetzt.

Dabei sollte man wissen, dass dies bei Kriegsbeginn im estnischen Narva produziert und die in Russland recht bekannte Julia Aug sofort massiven Problemen in Moskau und St. Petersburg ausgesetzt wurde. Man schloss, beziehungsweise verbot Ihre Vorstellungen, die russische Staatsbürgerin stand auf der „schwarzen Liste“ und musste das Land schnellstens verlassen. Für die nächsten Jahre ist jedoch ihr Aufenthaltsstatus in Deutschland gesichert, konnte ich erfahren.

Das estnische Vaba Laba Produktionshaus und Laboratorium für Theater-Experiment und Innovation zeichnete dafür verantwortlich. Im vergangenen Jahr trat die Stiftung mit dem „1. Festival of Freedom“ in Narva, dem östlichsten Punkt der EU, in Erscheinung und bot kleinen Theatern eine Plattform, speziell aus Ländern mit ernsthaften Problemen in Sachen Meinungsfreiheit und in denen Theatermacher in den letzten Jahren einer Zensur ausgesetzt waren, die die kreative Aktivität einschränkte. Dies ist nicht nur das Problem der östlichen Länder, sondern auch in Europa, wo die Zensur zunehmend die freie Schöpfung beeinträchtigt.


Geschichten aus dem Gepäck
Die Produktionsfirma KatlZ aus Riga präsentierte eine Geschichte über das Leben und die Menschen. Die Tatsache, dass es im Leben verschiedene Wendungen gibt, lustige, freudige, traurige und tragische. Nach jedem Krieg geht das Leben weiter.


Ein anderes Virus wurde vom Krieg von der Nachrichtenspitze verdrängt und bleibt doch ständiger Begleiter.
„Virus-Tagebuch“, von Dan Perjovschi konzipiert und entwickelt, entstand als eine Form der Anpassung an die Einschränkungen, die durch die Pandemie bedingt waren. Perjovschi lud andere Künstler ein sich zu beteiligen, um diese und die Öffentlichkeit aus der Erstarrung zu holen. An dem Projekt nahmen Künstler aus Rumänien, Spanien, Deutschland, den USA, dem Vereinigten Königreich, Österreich, Italien, Portugal, Griechenland, der Tschechischen Republik, Bulgarien, Uruguay, Indonesien, Kolumbien, Frankreich, Malaysia, China, Japan, Polen, Moldawien, Ungarn und Montenegro teil.
Ursprünglich wurde Virus Diary von der Galerie White Cuib online (auf Facebook und Instagram) veröffentlicht, als eine Art Work-in-Progress. Später wurde die Ausstellung an realen Wänden gezeigt, zuletzt im Kunstmuseum Piatra Neamt im Rahmen des Festivals.

Auch die Geschichte von Elise Wilk „Verschwinden“ befasste sich im weiteren Sinne mit den Folgen von Krieg, Verlust der Heimat, Auswanderung, in einem sehr typisch rumänisch-deutschen.
Diese Produktion des „Andrei Mureșanu” Theaters, Sfântu Gheorghe, erzählte in drei Episoden aus der Historie der Siebenbürger Sachsen. Verschwinden bedeutete hier gleichsam die Auflösung einer Gesellschaft. Im Mittelpunkt standen drei Frauen aus drei Generationen einer Familie. 1945 und Russlanddeportation, 1989 Flucht vor der Ceaușescu-Diktatur, zerplatzte Träume vom reichen Deutschland auch beim Beitritt Rumäniens zur EU um 2007.
Wechselnd zwischen Erzählung und szenischen Elementen hatte Regisseur Cristian Ban das Trauma der Gesellschaft der Siebenbürger Sachsen anhand von drei Protagonistinnen -so wie sie die Autorin sehr persönlich sieht- dramaturgisch eingebettet in eine Bewusstwerdung zwischen Frust und Lust, mit wunderbaren komödiantischen Aspekten und frei von Pathos, um innere Ressourcen zu finden, die Tragödie der Geschichte zu bewältigen.


Weitere bemerkenswerte Produktionen aus Rumänien 

Linotip - Unabhängiges choreografisches Zentrum, Bukarest,

war mit „Menschen, Körper, Bilder“ vertreten. Die Produktion warf Fragen über die Art und Weise auf, wie wir uns in der Kunst, in der Mode, in den Massenmedien, in der Erziehung und in der Familie zum Körper verhalten.

Das Konzept wurde ausgehend von den persönlichen Erfahrungen der Choreografin Ioana Marchidan während ihrer Ausbildung an der Ballettschule entwickelt, die sich auf die Auswirkungen von Body-Shaming (Belästigung aufgrund des Aussehens) in der Gesellschaft bezogen. Die Produktion war inspiriert von den Erzählungen derjenigen, die während der Recherchephase ihre Erfahrungen mitteilen wollten. Auf der Grundlage dieser persönlichen Berichte hatte Mihaela Michailov passgenau Texte verfasst, die den choreografischen Diskurs von Ioana Marchidan ergänzten und von den Tänzerinnen Teodora Velescu, Mariana Gavriciuc, Simona Dabija beeindruckend gekonnt interpretiert wurden.

National Theater Târgu Mureș - „Liviu Rebreanu” Company, Die Rückkehr
Was man sich nie zu sagen traute brach abrupt aus zwei Paaren heraus, nachdem ein Bekannter nach  10 jähriger Abwesenheit seine Rückkehr angekündigt hatte. Jahre langes Nebeneinander und die zur Routine gewordene Gewöhnung im alltäglichen Umgang wurden mit einem Mal in Frage gestellt, zogen eruptive physische und psychische Entladungen all dessen nach sich, was lange tief im Inneren begraben lag. Es wurde gesagt, was gesagt werden musste, mit allen daraus folgenden Konsequenzen für die Zukunft eines jeden Einzelnen.
Der Besucher sagte ab und das Vorhersehbare trat ein. Mit einem Mal implodierte alles und die alltägliche Normalität hatte wieder ihren Platz im Leben der beiden Paare eingenommen. Die invasive Vergangenheit hatte der Zukunft Platz gemacht.
Adi Iclenzan war es gelungen, die fein gestrickte Dramaturgie von Laurențiu Blaga mit vier adäquten Darstellern (Andi Gherghe, Ștefan Mura, Georgiana Ghergu, Ale Țifrea) glaubwürdig in Szene zu setzen. Eine runde Vorstellung.
 

Reactor de Creație și Experiment, Cluj-Napoca, PART 1: LOVE
Die kollektiven Texte der lebendigen jungen Besetzung Andrada Balea, Cătălin Filip, Alina Mișoc, Adonis Tanța, Octavian Voina, machten die Show "Part1:Love" zu einem sehenswerten und unterhaltsamen Festivalabend auf gutem Niveau mit einem Blick nicht nur tief in die rumänische Seele.

Liebe in manigfacher Ausformung bis hin zum emotionalen Ballast, den wir seit frühester Jugend mit uns herumschleppen, gab es fast alles und auch kaum ein Cliché wurde dabei ausgelassen. Zum Glück kam dabei Selbstironie reichlich zum Zuge. Verflucht noch einmal, haben diese jungen Darsteller mich vor 50 Jahren erlebt, oder ist es ihnen gelungen mit Ihrer Collage uns alle irgendwo tief in unserer Vergangenheit zu berühren? Es gelang ihnen gekonnt, mit einer guten Ensembleleistung und darüber hinaus mit einigen bemerkenswerten Einzeldarbietungen. All das ließ Fehler in Dramaturgie (Cosmin Stănilă, Petro Ionescu) und Regie (Petro Ionescu) bei der Musik von Alexandru Condurat im farbenfrohen Set von Alexandra Budianu gerne übersehen. Ein Abend, der Lust auf mehr machte.

„Geh mir aus der Sonne“,
von Alexa Băcanu, ein weiteres Stück der Truppe, wild, frech und frisch, beschäftige sich größtenteils mit der Gruppe selber. Wunderbar gespielt und gesungen von diesen talentierten jungen Darstellern, hätte ein wenig mehr Öffnung ins Allgemeingültige vertragen und ein Blick über den Tellerrand dem Stück mehr Bedeutung gegeben.

DISCO '89: DIE 7 TODE VON MIHAELA RUNCEANU, produziert von Teatrul Apollo 111, einem unabhängigen Ort für darstellenden Künste in Bucharest
Catinca Drăgănescu (Regisseurin) bot in den letzten Tagen im Leben der berühmten Sängerin Mihaela Runceanu eine Art Doku-Drama. Ihr tragisches Ende ist in Mysterien- und Verschwörungstheorien verschleiert. Runceanus Hits (perfekt gesungen von Oana Pușcatu) unterstrichen die Produktion als Raum der Freiheit des Künstlers in der schlimmsten Zeit der rumänischen kommunistischen Gesellschaft.

Ada Milea - Der Sturm
Großen Unterhaltungswert bewies Ada Milea, der eigenwillige rumänischen Star in Sachen Musik und theatralischer Darstellung. Sie durfte auf keinem Fall im Festival fehlen. Ihre musikalische Interpretation des „Sturm“ von Shakespeare führte auf eine Insel übervoll von Klängen und Geräuschen in einen Traum, in dem die Logik durch überbordende Fantasie aufgehoben wurde.

 

Nach dem Ende des ausgezeichneten, internationalen, jedoch politisch ungewollten Undergroundfestivals verschwand die Stadt Arad fast eine Dekade lang in der Bedeutungslosigkeit in Sachen Theater. Erst vor kurzem machten verschiedene Vorstellungen wieder auf sich aufmerksam. 
Dass dabei endlich der ethnisch ungarisch-rumänische Zwiespalt nicht nur einmal außen vor blieb, im Gegenteil kulturelles Miteinander den Geist des Geschehens ausmachte, spielte hierbei eine besondere kulturpolitische Rolle mit Vorbildcharakter.


Eine davon war ganz gewiss "497", eine Theater-Tanz-Produktion aus Arad über ein berühmtes Ereignis des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Vier Rumänen hatten den vom Touring Club de France ausgeschriebenen Wettbewerb mit einem Preisgeld von 100.000 Francs für eine Weltreise zu Fuß gewonnen.
Diese begann 1910 und dauerte zehn Jahre. In dieser Zeit trugen sie rumänische Volkstrachten, unterhielten sich mit Volkstänzen und trugen 497 Paar Opinci (traditionelle Bauernschuhe). Nur einer von ihnen beendete das Rennen, aber auch er hatte wenig Freude an dem Preis, da sein Wert inzwischen durch die Inflation zunichte gemacht worden war.
Vier Tänzer aus je einem rumänischen und ungarischen Ensemble, Harmati Patrik, László Richárd, Móricz Bence und Varga József lieferten in der Choreografie von Farkas Tamás eine bislang unbekannte Variante von rumänischem Volkstanz ab. Ein modernes „Volkstanz-Handlungsballett“ zeichnete den beschwerlichen Weg der vier Protagonisten in eigenwilliger Art und Weise auf. Anklänge an zeitgenössisches Theater entwickelten sich jeweils auf der Basis wiederkehrender Volkstanzabläufe, die sich (musikalisch gut untermalt von Gera Gábor) den Ländern der Reise entsprechend angepassten, Folklore auf qualitativ hochstehenden Bewegungsabläufen, ein bislang nicht gesehenes Spektakel, eine Mischung aus viriler Kraft und sensitiven Inhalten.

Die Gastgeber, das Theater der Jugend, traten mit aussagekräfigen Stücken im Festival auf.

BABEL 11:4 or IT ALL BEGAN - 16 Menschen im selben Raum, einem gelungenen Set (Sabina Veșteman), unterstützendem Lichtdesign (Costi Baciu) und Video Installationen (Tiberiu Enache) und zur Verwirrung beitragenden live Video Montagen (Alexandru Oancea).

 

So viele Menschen, so viele Wahrheiten. Falsch. Jedes Treffen vervielfachte die Perspektiven auf die Wahrheit ins Unendliche, gab es in diesem Fall noch eine einzige Wahrheit? 

"In einer Welt, in der Konflikte nicht mehr einfach, sondern hybrid sind, in einer hybriden Welt mit hybriden Wahrheiten, hybrider Kunst, hybriden Leiden, hybriden Revolten und hybriden Kriegen, ist das menschliche Gehirn das neue Territorium, das es zu erobern gilt."

Mit spielfreudigem Einsatz bewältigte die Truppe des Theaters, die Stories mit hybriden Betrachtungsweisen und hybriden Wahrheiten in zwei Stunden gekonnt zu vermitteln. Anfangs schien im Foyer die Welt in Ordnung, klang lieblich und klang zum Schluss auch lieblich wieder aus. War das auch nur Ablenkung von der Wahrheit im Wartebereich? Manch ein Besucher verlor den Faden, denn hier ging es nicht um Form von Inhalt und dessen Darstellung. Ich fühlte, es ging im Script von Enoch Darli und der Regie von Daniel Chirilă einzig um den Fakt multipler Fakten …

MYTH SHOW: Eine Geschichte des Misstrauens

David Schwartz inszenierte den semi-musikalischen Schlussakkord des Festivals nach einem Text von Daniel Chirilă. Loredana Grigoriu und Paul-Ovidiu Cosovanu führten als Spielleiter durch diese Mythos Show, wobei der Zuschauer (scheinbar) Inhalte und Abläufe bestimmen konnten. „Wir leben schließlich in einem Informationszeitalter, in dem jeder seine eigene Art und Weise wählen kann, wie er mit der Geschichte umgeht, und das führt oft zu sozialen Widerständen."

Die Show des Misstrauens untersuchte die Art und Weise, wie sich die Mitglieder einer Gemeinschaft auf wichtige Episoden der jüngeren Geschichte beziehen, von den Zeitgenossen des Bauernaufstands von 1907 über die ehemaligen Arbeiter der Industrieplattform Săvinești, die die volle Wucht des postkommunistischen Übergangs zu spüren bekamen, bis hin zu der Pandemie von 2020, den Impfungen und den Schülern und Lehrern, die in letzter Zeit Erfahrungen mit der Online-Schulbildung gemacht hatten.


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