"HIER IST ALLES MEER, HIMMEL UND HÖLLE, ELYSIUM UND TARTARUS SIND HIER ERFUNDEN", SO SCHRIEB 1787 JOHANN WOLFGANG VON GOETHE:
Alle Extreme vereint im Superlativ könnten eine mögliche Form sein, diese Metropole des Kontinents zu benennen. Und in der Widersprüchlichkeit all dieser Extreme finden wir sie wieder: Neapel, die Stadt die längst schon als abgeschrieben und von der Landkarte entwicklungsfähiger europäischer Städte verschwunden zu sein schien.
Bazon Brock meint, es sei auf den ersten Blick jetzt und für alle Zukunft absurd, den Kulturtopos Stadt gegen den längst etablierten Zivilisationstopos Metropolis verteidigen zu wollen und mit neuen Inszenierungen der Stadt die Wüste des weltweiten Metropolis zu beleben. Ist das auch auf den zweiten Blick absurd? - Jedenfalls dann nicht, so Brock, wenn man überhaupt noch wagen will, in die Welt zu blicken, anstatt der Prozession der Blinden zu folgen, deren absehbarer Sturz schon zu Bruegels-Zeiten alle Tragik verloren habe.
Versuchen wir, meine Damen und Herren, sehend zu sein, wenn wir den seit Fritz Langs Film negativ belasteten Begriff Metropolis in Relation zu Neapel setzen: Kultur ist nichts Natürliches. Es handelt sich um eine Leistung, die der Natur abgerungen werden muss, denn stetig wird der Natur mit Mitteln der technischen Funktionalität zu voller Durchschlagskraft verholfen.
Denkbare positive (geistige, kulturelle und soziale) Aspekte, die zur Idee Europa geführt haben, sind gefährdet, wenn nationale Egoismen - gerne versteckt unter Aktivitäten wie Regionalisierung und Automonie - wenn also jene nationalen Egoismen die Gemeinschaft als Ganzes ignorieren. Europa ist förderungswürdig und wertvoll in der Gesamtheit des kulturellen und sozialen Erbes eines jeden einzelnen Staates, das es einzubringen, zu integrieren und zu nutzen gilt.
Blicken wir also vom südlichen Strand über das Mittelmeer und entdecken Neapel, eine Metropole von 2 Millionen Einwohnern und 5 Millionen täglicher Ein- und Ausbewegung, ein Metropolis, wie es auch am Südrand des Mittelmeeres (Der Spiegel 20/2000) heranwächst. Die Problemkonstanten einer beinahe unaufholbaren wirtschaftlichen Rückständigkeit, stetiger Arbeitsknappheit, nicht endender Misswirtschaft, korrupter Verwaltung und fatale politische Fehlentscheidungen, hohe Kriminalität, fehlende oder desolate Infrastrukturen, unendliche Umweltsünden, Bauspekulation und ein wie es Rudolf Velten schrieb, alles erstickender Verkehr.
"Zu verwalten sind solche Monstergebilde kaum noch, sie ersticken an ihrem Wachstum, und doch sind es die einzigen Fluchträume für die, die auf dem Land keine Chance mehr sehen."
(s. Spiegel 20/2000)
Wie sich die Probleme gleichen. Steht Nordafrika hinter den Industrienationen zurück, so ist dies auch im Vergleich von Mezzogiorno und den immer weiter erblühenden norditalienischen Regionen der Fall. Was z.B. der Spiegel den Ballungsräumen Nordafrikas ausrechnet, war bis 1993 in Neapel offenkundig. Die Stadt war auf Grund ihrer enormen Schuldenlasten, dem politischen Poker - wie eben angeführt - anheim gegeben, als erste Stadt in Italien regierungsunfähig geworden.
Die Geschichte Antonio Bassolinos, sein Sieg über die Duce-Enkelin Alessandra Mussolini, sein "linker Pragmatismus", all das ist ausreichend beschrieben, besprochen und auch offensichtlich geworden. Velten schreibt in einem Artikel, dass seit dem Auftreten Bassolinos auf der Politbühne in Neapel nichts mehr so ist, wie es vorher war. Selbst die besten Kenner der Verhältnisse wundern sich und finden keine Worte der Erklärung. Es wird von Fortuna und Mirakel getuschelt. Innerhalb von zwei Jahren habe sich die Stadt so verändert wie in Jahrzehnten zuvor nicht. Ihre Bewohner sind ausgetauscht, einer Art Rausch verfallen. Und es scheint so, als wenn Bassolinos große Verweigerer es sich plötzlich anders überlegt hätten: "Vor einer roten Ampel hält man nun auch in Italien!" Die "Restaurierung des urbanen Raums" stand auf der Kulturflagge Antonio Bassolinos. Die Umkehr von Natur in Kultur hieß, eine "Rückkehr zur Normalität"(Velten) zu schaffen. "In den technisch zivilisierten Wüsten von Metropolis" gilt es "Terra Murata" aufzurichten. "Diese Lebensräume humaner Rationalität inmitten weltweit herrschender Zivilisationswüsten" müssen so Bazon Brock ganz anders aussehen als die alten Metropolen.
Dazu gehört die Transparentmachung und Demokratisierung des ehemals verfilzten und korrupten kommunalen Apparats und seiner Entscheidungen, also die Einhaltung bestehender Gesetze, und dies geschieht in einer interessanten politischen Umkehrung.
Die Beharrung Antonio Bassolinos auf dem Legalitätsprinzip in all diesen Bereichen, eigentlich kein klassisches Feld der Linken, ist heute voller Überzeugung in besagter Gruppe mit größerer Akzeptanz versehen als es die rechte Opposition ernst zu nehmen gedenkt. Nun muss die Verkehrspolizei die Fußgängerzonen und Einbahnstraßen zwar noch absperren, damit sie funktionieren, aber es wird angenommen, die Bürger eilen verkehrsberuhigt und ohne stinkende Abgase atmen zu müssen dem Einkauf entgegen, zuhauf. Verschlossene und verkommene Gärten und Parks sind hergerichtet, aus mülligen Parkplätzen erwachsen zu zentralen Flaniermeilen. Das Stadtschloss Palazzo Reale entstand wieder als Königsschloss. Seine königliche Fassade, die ausladende Piazza del Plebiscito veränderten sich von stinkender Bus- und PKW-Ablade zum Zentrum der Stadt, auf dem heute regelmäßig neue Kulturereignisse stattfinden, die zeigen, welch aktuelles kreatives Kulturpotential in Neapel vorhanden ist.
Die Menschen zu begeistern, ihre Pfründe aufzugeben und für das Allgemeinwohl die Arbeitskraft einzusetzen, dies an die Verwaltung und die Arbeiter heranzutragen bedeutet mehr als die Leistung einer bloßen Faszination. Zahlreiche kulturelle Visionen durch Umstrukturierung in Realität umzumünzen, "alles, ohne auch nur eine einzige Lire auszugeben", so Bassolino, gehört zu einer der großen Leistungen im Metropolis Neapel.
"Der Aufwertung des einzelnen Bürgers entsprach die Aufwertung des städtischen Raums" (Velten) Durch die Beteiligung der Bürger an öffentlichen Angelegenheiten, die Schärfung des Gefühls für den bürgerlichen Gemeinsinn über den kontinuierlichen Aufbau einer selbstbewußten Identität schafft das Klima einer allgemein politischen und bürgerlichen Mobilisierung, um für die eigentlichen Projekte Konsens und Unterstützung zu finden, denn noch ist der Erneuerungsprozess Neapels nicht abgeschlossen. Was Volkskultur und Avantgard betrifft, so war und ist Neapel eine Metropole. Kunst und Künstler sind heute mehr denn je ihre Geburtshelfer. Die kulturelle Vielfalt allerorts spielt sich zunehmend in der Öffentlichkeit ab. So man sich über viele Jahre zum Einholen der Dinge des alltäglichen lebens nur kurz nach draußen bewegte, findet das mediterrane Leben wieder im Freien statt. Ein Stein im Gebilde der Visionen Bassolinos ist der Bedeutung der kulturellen Aktivitäten zuzumessen, die seine Stadt wieder lebendiger und lebenswerter gemacht haben.
Darüber hinaus findet sich auch der Tourist, ein wichtiger devisenbringender Faktor, sicher im Gewirr der engen Gassen zurecht. Über das Weltkulturerbe Neapel, die Wissenschaftsstadt Bagnoli, die Renovierung der großen weltberühmten Museen, die Verkehrspolitik, die Rückgewinnung von Lebensraum, wenn man sich die Kulturvisionen Bassolinos vergegenwärtigt, so zeichnen wir heute einen Politiker und einen Menschen aus für seine Fähigkeit und seine Beharrlichkeit, am Golf breiten Konsens zu stiften, um Neapel, die Stadt am Golf nicht nur die als extremste und interessanteste, sondern auch eine der schönsten Metropolen wieder entstehen zu lassen.
Wir zeichnen den ersten Bürger einer Stadt aus, stellvertretend für alle Bürgerinnen und Bürger Neapels, die der Wiedergeburt ihrer Stadt Geburtshelfer sind. Auf diesem Weg soll der KulturPreis Europa 2000 Anstoß sein, eine Auszeichnung, die anspornt in den Anstrengungen nicht nachzulassen, anderen erfahrbar zu machen, dass eine europäische Idee eine Chance bedeutet, ein Modell friedlichen Zusammenlebens vieler verschiedener Menschen zu sein, deren Verschiedenheit als willkommenes Potential, als Mitgift gesehen wird, als Möglichkeiten, die bei der Lösung der vielfältigen anstehenden Probleme nützlich sein können.
Die Kölner Objektkünstlerin Clementine Klein schuf einen Siebdruck auf Acrylglas, "Disziplin", hinterlegt mit Gold und Schmutz, eine unendliche Vielfalt menschlicher Bewegungen, Aktivitäten in unterschiedlichste Richtungen zwischen Gold und Staub, deren extreme Vielfalt eine wunderbare kreative Einheit bildet:
Ein zukunftsorientierter Preis. Wir gratulieren den Bürgerinnen und Bürgern von Neapel und wünschen dem scheidenden Bürgermeister der Stadt Neapel in seinem neuen Amt als Präsident der Region Kampanien Mut und Ausdauer und Kraft für einen Konsens zum Wohle der Metropole Neapel für Europa.
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