Brecht/Weill „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“
Premiereneindrücke vom Gelsenkirchener MiR: Viel Luft nach oben

Dass Regisseur Jan Peter das Brecht/Weill Epos „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ in den Ruhrpott verlegt hat, klingt als Ankündigung der Premiere Ende Januar im Musiktheater in Revier (MiR), Gelsenkirchen, eingedenk einer historischen „Goldgräberstimmung unter Tage“ und kontrastierend zur aktuellen Bandenkriminalität recht einsichtig.

Weill und Brecht ergänzten sich perfekt in Typisierung, direkter Aussage, einer offenen Zeit- und Gesellschaftskritik, dem Theater als „moralische Anstalt“ und einer humanitären Ethik auf musikalischem Fundament. Ein Gemeinwesen ohne Solidarität hat keinen Bestand, der sich selbst verzehrende Raubtierkapitalismus keine Zukunft.



Da wäre schlichtweg alles möglich und glaubhaft gewesen. Das Nachkriegsszenarium (Katrin-Susann Brose - Bühne und Susanne Schiebler - Video/Grafik) mit noch intaktem todbringenden Gasofen, der mit menschlichen Teilen gefüttert wird, ruinenhaftem Bühnenaufbau, eingespielten Originalaufnahmen vom Kriegsende in Gelsenkirchen und sogar ein Blick untertage, geben dieser „Netzestadt Mahagonny“-Inszenierung einen Namen.

 

Die Ganovin Witwe Begbick (Almuth Herbst), ihre Kumpanen Fatty (Petra Schmidt) und besonders Dreieinigkeitsmoses (Urban Malmberg) in abgerissenem NS-Outfit à la Zorg auf der Flucht vor der Polizei, verleihen der Sache zumindest äußerlich ein Gesicht. Jakob Schmidt (Tobias Glagau), Sparbüchsenheinrich (Petro Ostapenko, Alaskawolfjo (Joachim Gabriel Maaß) und Tobby Higgins (Jiyuan Qiu) tragen als Goldgräber im Gefolge von Paul Ackermann (Martin Homrich) dazu intensiv bei, ebenso der wie immer ausgezeichnete und spielfreudige Opernchor unter Alexander Eberle. Mahagonnys Netze wurden im Ruhrpott ausgeworfen.

 

Zuerst ward ja alles verboten, in der Nacht vor dem nahenden Untergang reißt Paul Ackermann den Kahn herum. Das bringt Mahagonny den neuen Aufschwung, ihm letztlich den Tod. Diesem äußerlich und stimmlich gewaltigen Martin Homrich muss man einfach alles glauben. Der Darsteller von großer Gestalt und noch größerer Stimme, ein kommender Stern am Heldentenor-Himmel, brilliert sauber und schön mit ausdrucksstark gewaltiger Power. Ihm liegen die Prostituierten auf der Bühne und das Premierenpublikum mit Recht zu Füßen. Es gelingt ihm stets perfekt der rasche Wechsel sanfter melodiöser Szenen über aggressive Passagen bis hin zum tosenden Aufbäumen vor dem Tod. Durch Homrich erhält das Stück erst Ausdruck.

 

Einige der Hauptfiguren dieser Oper warten mit mehrschichtigen Stimmen auf. Petra Schmidts Sopran kann bösartig, Urban Malmbergs Bariton zieht alle möglichen Register. Almuth Herbsts Mezzo strahlt, aber schrammt dabei nahe an der Revue vorbei. Und da ist noch Jenny, das Freudenmädchen, die Überlebensopportunistin, an deren Interpretation bereits so manche Soprane gescheitert sind. Anke Sielhof im Rock’n’Roll Kleidchen-Chic mit goldgelockter BDM-Frisur, strahlendem Gesicht und dazu einem wunderschön klangvollem Sopran steht dann bei nahezu jedem Auftritt voll in der Operette. Die sollte vermieden werden. Lieblicher Sopran ohne Biss im Sauberfrau Outfit lässt eben keine Song-Ästhetik zu. Doch genau danach verlangt diese Rolle so sehr. Hinzu kommt, dass die Inszenierung jeglicher Erotik entbehrt und so hat‘s die Glaubwürdigkeit schwer.

Zu all dem schleppt sich noch ein sich endlos ziehendes Orchester durch den ersten Teil. Thomas Rimes dirigiert die Neue Philharmonie Westfalen verhalten in einem durch, als müsse sich das Orchester verstecken. Schlagwerk scheint kaum zu existieren und Rimes hält den orchestralen Klangkörper stets weit unter den Stimmen. Doch die sind verkabelt und könnten gemeinsam mit dem Orchester durch die Decke gehen, wenn sie nur dürften. Mahagonny lebt vom Wechsel der Extreme. Dann endlich nach der Pause kommt Pep in die Sache, wenn auch etwas spät. Vielleicht mag dies der Auftaktvorstellung geschuldet sein.

 

Das Premierenpublikum jedenfalls spendete begeistert langen Beifall, der für die Protagonisten und besonders den Dirigenten noch anschwoll, nur einige ablehnende Buh-Rufe waren beim Auftritt der Gruppe um Regisseur Jan Peter zaghaft vernehmbar. So möge sich jeder selbst bei den folgenden Vorstellungen des Nachkriegs-Mahagonny in Gelsenkirchen seinen Eindruck verschaffen. (von Dieter Topp)

Weiter Informationen und Spieltage: musiktheater-im-revier.de



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